Volks­wagen Art4All: Talk mit Prof. Rolf Nobel und Barbara Hofmann-Johnson:
Kann die Kamera eine Waffe sein?

Zum ersten Volks­wagen Art4All Termin im Jahr 2022 konnte das Kunst­mu­seum Wolfsburg am 26. Januar wieder seine Türen bei freiem und verlän­gertem Eintritt öffnen: Neben den kosten­losen Führungen durch die beiden Austel­lungen True Pictures? La Toya Ruby Frazier und Menschen­bilder sowie einen Workshop zum Gestalten von Porträts konnte das Museum zwei Experten zum Thema “Die Kamera als Waffe?” gewinnen: zum einen Barbara Hofmann-Johnson, die Direk­torin des Museums für Photo­gra­phie Braun­schweig, das zusammen mit dem Sprengel Museum und dem Kunst­mu­seum Wolfsburg die aktuelle Koope­ra­tion True Pictures? zur zeitge­nös­si­schen ameri­ka­ni­schen Fotografie verfolgen. Zum anderen betei­ligte sich der renom­mierte Fotojour­na­list Prof. Rolf Nobel an dem Talk. Der Dr.-Erich-Salomon-Preisträger ist durch seine Repor­ta­ge­fo­to­gra­fien in über 50 Ländern bekannt geworden, u.a. für GEO, stern, ZEITma­gazin, mare und Brigitte. Er ist zudem Begründer des sehr beliebten Lumix Festivals für jungen Fotojour­na­lismus in Hannover. Seit 2000 ist er als Professor für Fotografie tätig und hat an der Hochschule Hannover den Aufbau des Studi­en­ganges Fotojour­na­lismus und Dokumen­tar­fo­to­grafie zu einem der größten Fotografie-Studi­en­gänge Deutsch­lands und einem der weltweit erfolg­reichsten akade­mi­schen Ausbil­dungs­stätten im Fotojour­na­lismus zu verantworten. 

Im Rahmen der Ausstel­lung zu der ameri­ka­ni­schen Fotokünst­lerin LaToya Ruby Frazier stellten sich die beiden Gäste gemeinsam unter der Modera­tion von Direktor Dr. Andreas Beitin der Frage, ob die Kamera auch eine Waffe sein kann. Bei Frazier jeden­falls wird sie im Sinne Gordon Parks als eben solche genutzt: Die US-ameri­ka­ni­sche Künst­lerin widmet sich unter anderem sozialen Ungerech­tig­keiten, Rassismus, Arbeits­mi­gra­tion und Umwelt­ver­schmut­zung. Als „a marriage of art and activism” beschrieb im März 2021 die New York Times die künst­le­ri­sche Praxis Fraziers. 

Die Kamera habe durchaus die Fähigkeit, eine gewisse Macht auszuüben, begann Andreas Beitin den Abend, da sie in der Lage sei, Dinge offen­zu­legen. Beitin verwies aber auch auf das berühmte Bertolt-Brecht-Zitat, nachdem ein Fotoap­parat ebenso lügen könne wie eine Setzma­schine. Im Anschluss daran disku­tierten die drei Redner*innen die Wirkmäch­tig­keit der Fotografie. Prof. Rolf Nobel konsta­tierte, dass Texte häufig nichts ändern, Bilder jedoch im Bewusst­sein blieben – es seien Fotore­por­tagen bspw. wie jene von Jacob Riis, der über Armut im New York der 1890er Jahre Bilder publi­zierte, die anschlie­ßend etwas in der Gesell­schaft änderten: Arbeits­schutz­ge­setze wurden anschlie­ßend verschärft und Kinder­ar­beit schließ­lich ganz verboten. In jüngster Vergan­gen­heit ist das das erschüt­ternde Bild des zweijäh­rigen syrischen Jungen Alan Kurdi gewesen, dessen Leichnam an die Küste von Bodrum geschwemmt wurde. Diese Aufnahme erregte 2015 weltweites Aufsehen im Zuge der Flücht­lings­krise – und veran­lasste Kanada dazu, 17.000 Flücht­lingen die Einreise zu erlauben. Doch Rolf Nobel sieht die Grenzen einer fotogra­fi­schen Wirkungs­macht: “Manchmal hilft sie, etwas in Bewegung zu setzen, aber sie kann die Welt nicht retten.” 

Es ginge bei derar­tigen Fotogra­fien aber um mehrere Faktoren, um eine derart immense Wirkmäch­tig­keit zu erzielen, darin waren sich alle einig. Die Bildäs­thetik muss Form und Inhalt verbinden, die erzählte Geschichte muss eine Emotio­na­liät anspre­chen, die gleich­zeitig durch eine außer­or­dent­liche Bildkom­po­si­tion unter­mauert wird. 

Barbara Hofmann-Johnson machte an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass die Rahmen­be­din­gungen von Fotojour­na­listen sich auch rapide verschlech­tert haben: Eine freibe­ruf­liche Recherche über einen längeren Zeitraum sei heutzu­tage gar nicht mehr möglich und so sehe man oft die gleichen Geschichten auf den öffent­lich-recht­li­chen Sendern. Rolf Nobel kann dies aus seiner Praxis­er­fah­rung und auch aus jener seiner Studenten nur bestä­tigen: Nutzte früher eine gute Arbeit, sich bei einem Magazin oder einer Zeitung einen fortfüh­renden, weiter­rei­chenden Auftrag abzuholen für eine längere Recherche, so ist die Konkur­renz heute derart groß, dass sich junge Kreative gegen­seitig ausste­chen und die Preise durch das Angebot gedrückt werden. Zudem haben die Medien­häuser zunehmen weniger Budget, solche Projekte zu fördern. 

Ein weiterer Punkt sei der Paradig­men­wechsel in der Bericht­erstat­tung: Die Bewegt­bilder eines Videos sind heute aller­orten, sie erreichen perma­nente “telein­time Momente von Tod und Verschwö­rung” (Nobel). Der magische Moment einer Fotografie, der etwas festhalten könne und durch Licht, Stimmung, Kompo­si­tion eine wirkliche große emotio­nale Kraft erreiche, die in Erinne­rung bleibt, kann bei der Flut an Bewegt­bil­dern nur selten gelingen, niemand erinnere sich an einzelne Sequenzen aus einem Video. Als Betrachter eines einzelnen Bildes habe man eben jene Kontrolle über das Bild, es so lange anzuschauen, wie man möchte, hinein­zu­zoomen und wieder weiter weg zu treten. So könne sich das Bild im Bewusst­sein manifestieren. 

Auch das Publikum steigt in die Diskus­sion ein, hinter­fragt analoge und digitale Möglich­keiten der Fotografie. Während Rof Nobel den immensen Vorteil der digitalen Fotografie für den Fotojour­na­lismus sieht (“schärfer, brilli­anter, empfind­li­cher”), ist Barbara Hofmann-Johnson auch von der Qualität analoger Techniken überzeugt: “Es kommt darauf an, was man beabsich­tigt”, sagt sie und schildert die verschie­denen Stimmungen und Inten­tionen, die analoge Fotografie erzeugen kann so wie bspw. bei dem Künstler Steven Shore. “Hier sind die Farbwir­kungen und räumli­chen Atmosphären entschei­dend”, so die Direk­torin. Andreas Beitin weist auch auf die Cynoty­pien bei LaToya Ruby Frazier hin: Die Künst­lerin nutzt diese hier ausschließ­lich für Dokumente, die sie abfoto­gra­fiert hat, um eine bilder­ni­scher Materia­lität zu erzeugen. 

Zusam­men­fas­send steht sicher­lich einer der Kernsätze von Rolf Nobel für die Aussagen des Abends: “Wir schreiben die Geschichte in Worten, aber wir erinnern uns in Bildern.”

LaToya Ruby Frazier, United Auto Workers in their monthly union meeting at UAW Local 1112 Reuther Scandy Alli union hall, Lordstown, OH, 2019 (aus der Serie The Last Cruze, 2019), © LaToya Ruby Frazier, Courtesy die Künst­lerin und Gladstone Gallery, New York und Brüssel
LaToya Ruby Frazier, The Bottom (Talbot Towers, Allegheny County Housing Projects), 2009 (aus der Serie The Notion of Family, 2001 – 2014), © LaToya Ruby Frazier, Courtesy die Künst­lerin und Gladstone Gallery, New York und Brüssel