Andreas Gursky

Fotografien 1994-1998

23. 5. — 23. 8. 1998

Infos

Das Kunst­mu­seum Wolfsburg zeigt vom 23.5. bis 23.8.1998 mit 24 großfor­ma­tigen Farbfo­to­gra­fien die künst­le­ri­sche Entwick­lung Gurskys aus den letzten vier Jahren. Ebenfalls in der Ausstel­lung sind jene Arbeiten vertreten, die sich bereits in der Sammlung des Kunst­mu­seums Wolfsburg befinden, z. B. das Diptychon „Hong Kong, Stockex­change“, 1994. Die hier erarbei­tete Ausstel­lung wird in fünf weiteren Stationen in Europa, u. a. in London, Lissabon und Genf, zu sehen sein.

Zu Beginn der 80er-Jahre hat sich die Fotografie als künst­le­ri­sche Ausdrucks­form endgültig in die Vielfalt der zeitge­nös­si­schen Kunst­praxis integriert. Fast unüber­schaubar präsen­tiert sie sich heute mit unter­schied­lichsten Bildauf­fas­sungen und Themen. In Deutsch­land nimmt eine Gruppe von Absol­venten der Düssel­dorfer Kunst­aka­demie eine Schlüs­sel­funk­tion ein; sie alle wurden von Bernd und Hilla Becher unter­richtet oder in ihrer künst­le­ri­schen Ausein­an­der­set­zung sichtbar beein­flusst: Thomas Ruff, Thomas Struth, Candida Höfer, Axel Hütte und Andreas Gursky, um nur die bekann­testen zu nennen. Sie arbeiten mit einer handwerk­li­chen Präzision, die das Abgebil­dete bis in mikro­sko­pi­sche Details offeriert. Im Gegensatz zur Schnapp­schuss­fo­to­grafie, wie sie von Andy Warhol und Nan Goldin zelebriert wurde und wird, ist die Fotografie der „Becher-Schüler“ ein Ergebnis handwerk­li­cher Behut­sam­keit. Die Einstel­lungen mit der Platten­ka­mera erfordern Zeit, die Ergeb­nisse sind exakt, von hoher formaler Klarheit und konstantem Licht, ohne persön­liche Spuren des Fotografen, vermeint­lich objektiv. Auch wenn die o. g. Künstler in ihren Einzel­ar­beiten bisweilen bis zum Verwech­seln ähnlich sind, bedingt durch die Auswahl der Genres, die gleichen Produk­ti­ons­stätten für Abzüge und Rahmung und ähnliche Bildfor­mate, lassen sich in der Werkge­samt­heit doch klare Unter­schiede erkennen und benennen.

Der 1955 in Leipzig geborene Andreas Gursky, dessen Vater und Großvater sich bereits als Fotografen einen Namen gemacht haben, verfolgt in seiner ersten Schaf­fens­pe­riode bis 1984 noch die konzep­tu­ellen und teilweise seriellen Arbeits­me­thoden seiner Lehrer, die er dann aber zugunsten des indivi­du­ellen Bildes und einer subjek­tiven Motivwahl aufgibt. Hier unter­scheidet er sich deutlich von Hütte oder Ruff, die weiter in Serien arbeiten, und er unter­scheidet sich auch von Jeff Wall durch die völlige Abwesen­heit von Insze­nie­rung. Der Betrachter wird bei seinen Arbeiten stiller Zeuge eines bis in die Unend­lich­keit gedehnten Augenblicks.

Gurskys Thematik hat sich in den Jahren stets weiter­ent­wi­ckelt, wenngleich seine generelle Unter­su­chung über den Menschen in seiner Umwelt, sei es in der Natur oder in der gestal­teten Natur, evident bleibt. In seinen früheren Landschafts­auf­nahmen wirkt noch eine gewisse roman­ti­sche Dramatik, die an Caspar David Friedrich erinnert oder an Landschafts­kom­po­si­tionen von Claude Lorrain denken lässt. Bei seiner Hafen­an­sicht von „Salerno“ von 1990 werden unwei­ger­lich die Venedig-Veduten von Canaletto aus der kunst­ge­schicht­li­chen Erinne­rung abgerufen und bei seinen menschen­be­völ­kerten Szenarien vermit­telt sich immer auch ein ausge­spro­chener Bezug zur Alltäg­lich­keit. Dagegen scheinen seine jüngsten Arbeiten einer noch forma­leren Stringenz zu folgen. Archi­tektur als skulp­tu­rale Baukörper, die z. B. ein Rezep­ti­ons­pro­blem von Donald Judds „vertikals stacks“ von Aufsicht und Unter­sicht reflek­tiert, Aktien­börsen, weltweit, als instru­men­ta­li­sierte Umwelt der Macht­zen­tren des inter­na­tio­nalen Kapitals. Seit 1992 bearbeitet Gursky seine Aufnahmen mit dem Computer nach. Zunächst nutzt er dies nur als notwen­diges techni­sches Verfahren, um Mängel der Fotografie zu kompen­sieren, inzwi­schen setzt er diese Form der Bildbe­ar­bei­tung gezielt auch als kompo­si­to­ri­sches Verfahren ein, ohne jedoch auf surreale Effekte abzuzielen. So entstehen Wirklich­keits­bilder, die entweder technisch gar nicht fotogra­fierbar oder in der Realität gar nicht vorhanden sind, aber immer die Möglich­keit einer Realität enthalten, die als kollek­tive Bilder­in­ne­rung in unserem Gedächtnis abgespei­chert ist.

Gurskys große Formate offen­baren auf den ersten Blick leicht erschließ­bare, perspek­ti­vi­sche Bildräume, die sich dann bei näherer Betrach­tung zu einem unend­li­chen, mikro­sko­pi­schen Kosmos zu entde­ckender Details entpuppen. Seine Fotogra­fien faszi­nieren durch ihre maleri­sche Bildauf­fas­sung, die „über Jahrhun­derte immer wieder ähnliche Bildvor­stel­lungen in der Kunst­ge­schichte auftau­chen (lassen). Es gibt offen­sicht­lich eine gemein­same, allen Menschen verständ­liche Sprache des Unbewussten, die man eine Sprache der Bilder nennen könnte“ (Interview mit B. Bürgi, 1992). Gursky ist in dieser univer­sellen Bildsprache verhaftet, seine Arbeiten sind zeitad­äquat, ohne modisch zu sein.

Katalog
Andreas Gursky. Fotogra­fien 1994–1998
Text von Annelie Lütgens. Mit einem Brief­wechsel zwischen Veit Görner und Andreas Gursky (dt./engl.)
34,5 x 32,5 cm, 84 S. mit einem Textein­leger, 43 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfil­dern 1998
ISBN 3–89322-4225–4
vergriffen