Gilbert & George

Shitty naked human world

18. 12. 1994 — 12. 3. 1995

Infos

Gilbert Proesch wurde 1943 in den italie­ni­schen Dolomiten geboren. Er studierte an den öster­rei­chi­schen Kunst­hoch­schulen Wolken­stein und Hallein und an der Akademie der Kunst in München. George Pasmore, geboren 1942 in Totnes, Devon, England, studierte am Dartington Adult Education Centure, Devon, am Dartington Hall College of Art und an der Oxford School of Art. Die beiden lernten sich 1967 als Studenten der St. Martin’s School of Art in London kennen. Seit 1968 leben und arbeiten sie zusammen in London. 1986 geannen sie den renom­mierten Turner Prize der Londoner Tate Gallery.

Die Kunst von Gilbert & George, an der sie selbst als lebendige Wesen parti­zi­pieren, ist einzig­artig. In den späten 60er und den frühen 70er Jahren stellten sie sich selbst als Kunst­werke dar. In ihren Perfor­mances ‘The Singing Sculpture’ und ‘The Living Sculpture’ sangen sie stunden­lang die gleiche Melodie und führten die gleichen Bewegungen aus, bis das Lied selbst völlig abgestumpft und bedeu­tungslos klang und der Zuschauer allein die ‘Skulp­turen’ (Gilbert & George, in ihren grauen Anzügen mit silbern bemalten Händen und Gesich­ters) wahrnahm.

“To be with art is all we ask”, “Alles, was wir wollen ist, mit Kunst zusammen zu sein” erklärten sie. Ihr Ziel war es, zu Künstlern ihrer Zeit, zu Künstlern der Gegenwart zu werden. Sie wollten eine Sprache schaffen, die diese Zeit wieder­gibt. Sie waren nicht länger bereit, ihre Schwächen, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Gedanken, ihre Leiden und alles, was zum Mensch­sein dazuge­hört, zu verste­cken. Sie ziehen in das Arbei­ter­viertel Spital­fields, wo sie die meisten Motive für ihre Arbeiten finden, nennen ihr Haus “Art for All” (“Kunst für Alle”) und tragen täglich identi­sche Tweed­an­züge in gedeckten Farben, die ihnen eine gewisse Serio­sität verleihen.

Die erste schwarz­weiße Fotoar­beit machten Gilbert & George 1971. Es waren einzelne Fotos, die an der Wand hingen und zusammen eine Art Assem­blage bildeten. 1974 wurde erstmals eine rote Kolorie­rung verwendet, um den expres­siven Ausdruck der Arbeiten zu unterstreichen.

Die 1976 und 1977 entstan­denen Serien ‘Mental, Dirty Words und Red Morning’ waren ganz offen­kundig politisch und galten sowohl als morali­scher Kommentar als auch als neutrale Reportage. Die Bilder handeln von Vernach­läs­si­gung, Macht und Unter­drü­ckung, Religion und von kultu­rellen und urbanem Verfall. Formal sind hier die einzelnen Fotos dicht anein­an­der­ge­rückt, dennoch gibt jedes ein autonomes Bild wieder. Ab 1980 verschmilzt die Arbeit zu (meist) einem Bildin­halt, den die Rahmen der einzelnen Segmente wie ein Gitter zusammenhalten.

Seit 1981 und 1982 werden lebendige Farben zur Kolorie­rung der Fotoar­beiten benutzt, die den narra­tiven Cartoon-Stil und explizit sexuelle Themen betonen. Persön­liche Ängste und Anliegen, wie in den Serien ‘Modern Fears und Modern Faith’ ersetzen nun überge­ord­nete soziale Inhalte. Diese Arbeiten entwi­ckelten sich zu langen, oftmals großfor­ma­tigen Friesen; die Fotos der Künstler, Seite an Seite mit jungen Männern, zeigen pseudo-familiäre Darstel­lungen mit klischee­haften Gesten.

1986 greifen Gilbert & George mit dem über 25 m langen Tripty­chon ‘Class War, Militant, Gateway’ noch einmal ein politi­sches Thema auf: den Klassen­kampf, der hier von Jugend­li­chen verschie­denster Rassen gemeinsam geführt wird. Ihr politi­sches Statement lautet: “We are not here to congra­tu­late society to how it is. We want to see change. Impro­ve­ment and advan­ce­ment”. “Wir sind nicht dazu da, um der Gesell­schaft dafür zu gratu­lieren wie sie ist. Wir wollen Verän­de­rungen sehen. Verbes­se­rungen und Fortschritt.”

1989 entsteht die große Serie ‘The Cosmo­lo­gical Pictures’. Hier sind Jugend­liche in den Mittel­punkt gerückt, wie Gilbert & George sie in ihrer Umgebung wahrnehmen. Teenager in modischer Kleidung und mit schicken Haarschnitten, scheinbar selbst­be­wusst und doch ratlos. 1990 wird in Moskau einie umfang­reiche Werkschau von Gilbert & George gezeigt. In den ‘New Democratic Pictures’ von 1991 stellen sich die Künstler allein oder mit männli­chen Modellen dar; alle (die jungen Männer, aber auch Gilbert & George) wirken hilflos auf der Suche nach einer Überle­bens­mög­lich­keit in einer immer bedroh­lich werdenden Umwelt. 1992 produ­zieren Gilbert & George eine Reihe von Arbeiten, die 1993 nach Peking und Shanghai reisen. Damit gehören sie zu den ersten zeitge­nös­si­schen Künstlern der westli­chen Welt, die in China ausge­stellt werden.

Seit Januar diesen Jahres haben Gilbert & George an einer neuen Serie gearbeitet, die erst vor kurzem fertig­ge­stellt wurde. Das Ergebnis bezeichnen sie als “die emotional bewegendsten Bilder, die sie je gemacht haben”. Schon in früheren Werken sind mensch­liche Ausschei­dungen thema­ti­siert worden, jetzt rücken geformte Exkre­mente ins Blickfeld. Gilbert & George selbst drücken mit der Darstel­lung ihrer bildgrei­fenden nackten Körper ein Spektrum mensch­li­cher Gefühle wie Zuneigung, Anleh­nungs­be­dürfnis, Unter­wer­fung und Furcht aus, wie sie es nie zuvor offenbart haben. Ein großer Teil dieser Arbeiten wird nun im Kunst­mu­seum Wolfsburg zum allersten Mal präsentiert.

Obwohl die Ausstel­lung nicht als Retro­spek­tive angelegt ist, wird sie einen Überblick über die künst­le­ri­sche Entwick­lung von Gilbert & George seit 1977 geben. In der großen Halle des Kunst­mu­seum Wolfsburg weren ca. 50 Arbeiten, die bis zu 5 x 11 m groß sind, in mehreren Reihen überei­ni­an­der­hän­gend. In einem Filmpro­gramm gibt es dokumen­ta­ri­sche Aufnahme der Perfor­mances, eine Reportage über Gilbert & George, sowie den Künst­ler­film “The World of Gilbert & George” zu sehen. Gilbert & George stoßen mit ihrer Kunst immer wieder an die Grenzen des schlechten Geschmacks und der Porno­gra­phie vor und verstoßen in ihrer Kunst ganz bewusst gegen gesell­schaft­liche Konven­tionen, damit haben sie eine andau­ernde kontro­verse Diskus­sion hervorgerufen.

Über sich selbst sagen sie: “We are: Unhealthy, middle-aged, dirty-minded, depressed, cynical, empty, tired-brained, seedy, rotten, dreaming, badly behaved, ill-mannered, arrogant, intel­lec­tual, self-pitying, honest, successful, hard-working, thoughtful, artistic, religious, fascistic, blood-thirsty, teasing, destruc­tive, ambitious, colourful, damned, stubborn, perverted and good. We are artists”. “Wir sind: Kränklich, mittelalt, voll von unanstän­digen Gedanken, depri­miert, zynisch, leer, gehirn­müde, herun­ter­ge­kommen, verdorben, verträumt, von schlechtem Benehmen, ungeho­belt, arrogant, intel­lek­tuell, voller Selbst­mit­leid, recht­schaffen, erfolg­reich, hartar­bei­tend, nachdenk­lich, künst­le­risch, religiös, faschis­tisch, blutrünstig, Quälgeister, destruktiv, ehrgeizig, lebhaft, stur, pervers und gut. Wir sind Künstler.”