John Chamberlain

Current Work and Fond Memories. Skulpturen und fotografische Arbeiten 1967-1995

7. 9. — 17. 11. 1996

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Zerknülltes Blech. Gequetschte, geknautschte, durch die Schrott­presse gejagte Karos­se­rie­teile großer ameri­ka­ni­scher Limou­sinen und Trucks: Das ist das Material John Chamber­lains. Seit fast vierzig Jahren baut der 1927 in Indiana, USA, geborene Bildhauer aus sperrigen Autoble­chen Skulp­turen, die mal schwer und wuchtig, mal leicht­füßig und tänze­risch daher­kommen und die besonders in jüngster Zeit von einer geradezu verfüh­re­ri­schen Farbig­keit sind, grellbunt und schil­lernd oder in strengem Schwarzweiß.

Chamber­lains erste Skulptur aus Autoteilen entstand 1957, als er auf dem Grund­stück des Malers Larry Rivers in Long Island Teile eines alten Fords entdeckte. Bis dahin eher von der abstrakten Stahl­plastik eines David Smith beein­flusst, faszi­nierten Chamber­lain vor allem die farbigen Oberflä­chen der Autobleche. Seine Skulp­turen und Reliefs, Collagen aus farbigen Blechen, sind Teil dessen, was Donald Judd 1965 mit Blick auf die damalige Kunst­ent­wick­lung „Spezi­fi­sche Objekte“ nannte: Arbeiten auf der Grenze zwischen Bild und Skulptur. Denn obwohl Chamber­lain nicht zufällig Autoschrott verwendet, geht es ihm um mehr als darum, Assozia­tionen an die motori­sierte Konsum­ge­sell­schaft hervorzurufen.

Die Ausstel­lung setzt ein mit einigen Haupt­werken aus den Sechziger- und Siebzi­ger­jahren: „Papagayo“, 1967, aus galva­ni­siertem Stahl gefertigt, oder die „Sockets“, zusam­men­ge­presste und farbig gefasste Ölfässer. Wie weit Chamber­lain jedoch die Verwand­lung des profanen Autoschrotts getrieben hat, wird gerade in den jüngeren Werken, wie beispiels­weise „Divine Ricochet“, 1991, oder „Borge­rette“, 1995, deutlich, in denen das spröde Stahl­blech bisweilen wie gefal­tetes Glanz­pa­pier anmutet. Die Bewegt­heit der Skulp­turen, ihre dynami­sche Form, ihr scheinbar jede Schwer­kraft negie­rendes Volumen, all das verleiht den Arbeiten der letzten Jahre eine geradezu barocke Überschwänglichkeit.

Daher legt die gemeinsam mit dem Stedelijk Museum Amsterdam erarbei­tete Ausstel­lung den Schwer­punkt auf die Achtziger- und Neunzi­ger­jahre. Wolfsburg zeigt darüber hinaus erstmals eine Reihe von kleinen und kleinsten Skulp­turen, „Baby Tycoons“, die 1990/91 entstanden sind. Chamber­lains spiele­ri­scher, poeti­scher Umgang mit dem Material wird in diesen skulp­tu­ralen Minia­turen besonders deutlich.

Das prozess­hafte, zeitliche Element in Chamber­lains Arbeit äußert sich darüber hinaus in seiner Beschäf­ti­gung mit Film und Fotografie. So wie seine Filme der späten Sechzi­ger­jahre, etwa „The Secret Life of Hernando Cortez“ von 1968 eher mit Andy Warhols Under­ground­filmen als mit dem Erzähl­kino Holly­woods zu tun haben, zeichnen auch die in der Ausstel­lung versam­melten Fotos von 1990–94 eher die spontanen Bewegungen des Künstlers auf, als dass sie ein Motiv beschreiben. Mit der Widelux-Kamera in der Hand durch­wan­dert Chamber­lain sein Atelier, den Broadway, Straßen in Paris und Amsterdam, dreht sich, tänzelt und erhält so Bilder, in denen sich die Welt in verwir­rende Farb- und Licht­spuren auffaltet und nebenbei wie eine einzige große Chamber­lain-Skulptur aussieht: „Alle meine Skulp­turen nehmen eine Haltung an; ich gebe sie ihnen. Wenn ein Stück vornüber­ge­beugt ist, dann ist das meine Haltung. Wenn es auf einem Bein tanzt oder wenn es sogar im Sitzen tanzt, dann hat es eine leicht­fü­ßige Haltung. Was ich mache, sieht nicht aus wie schwere Autoteile, die gegen eine Wand aufge­sta­pelt sind.“

Chamber­lain hat seine künst­le­ri­sche Position in den frühen Sechzi­gern ausge­prägt, und als Ausdruck dieses Aufbruchs­jahr­zehnts sind seine Arbeiten (wie übrigens auch die Skulp­turen Carl Andres) heute fast klassisch zu nennen. Dennoch haben sie nichts Abgeklärtes. Mit ihrem Optimismus und ihrer Vitalität bewegen sie sich im Rhythmus des modernen Lebens von heute.

Katalog:
John Chamber­lain. Current Work and Fond Memories. Sculp­tures and Photo­graphs 1967–1995/Skulpturen und fotogra­fi­sche Arbeiten 1967–1995
Texte von Marja Bloem, Rudi Fuchs, Donald Judd und John Yau. Mit einem Gespräch zwischen Julie Sylvester und John Chamber­lain (dt./engl.)
17 x 29 cm, 124 S., 31 s/w und 27 farbige Abb.
Amsterdam und Wolfsburg 1996
ISBN 3–9804827‑2–3
vergriffen