Nan Goldin

I'll be Your Mirror. Fotografien 1972–1996

15. 2. — 4. 5. 1997

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„Ich fotogra­fiere aus Liebe, aus meiner Vorstel­lung von Schönheit und Sehnsucht heraus.“ Nan Goldin erforscht in ihrem Werk die Bandbreite mensch­li­cher Bezie­hungen. Ihre Bilder erzählen von Freund­schaft und Sexua­lität, von Nähe und Verlust. Seit fünfund­zwanzig Jahren führt Goldin, die 1953 in Washington geboren wurde und in Boston aufwuchs, das visuelle Tagebuch ihres Lebens. Es ist zugleich eine Chronik der kultu­rellen, sozialen und sexuellen Verän­de­rungen in der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft seit den Siebzi­ger­jahren. Die Ausstel­lung, vom Whitney Museum of American Art organi­siert, gibt erstmals einen umfas­senden Einblick in das fotogra­fi­sche Werk einer bedeu­tenden und kompro­miss­losen Künst­lerin unserer Zeit.

Die frühen Siebzi­ger­jahre waren in Amerika und Europa eine Zeit des Aufbruchs. Eine junge Genera­tion erprobte neue Lebens­formen jenseits familiärer Bindungen und restrik­tiver Moral.

Nan Goldin lebte in Boston mit Freun­dinnen und Drag Queens zusammen, d. h. Männern, die sich als Frauen fühlen und insze­nieren. Goldins frühe Schwarz-Weiß-Aufnahmen huldigen den glamou­rösen Auftritt ihrer Freunde, ihrer Faszi­na­tion für Kinostars der Dreißiger- und Vierzi­ger­jahre, ihrem Rollen­spiel: sich selbst neu zu erfinden, eine Identität zu kreieren ohne Rücksicht auf die biolo­gi­sche Festle­gung weiblich oder männlich. Hab Mut, Du selbst zu sein! Diese Botschaft der Queens hat Nan Goldin in ihren Bildern einge­fangen und als Maxime ihres eigenen Lebens erkannt.

Faszi­niert von zeitge­nös­si­scher Modefo­to­grafie, lernte Goldin während ihres Studiums an der Boston Museum School die Porträ­tisten der Zwanzi­ger­jahre, wie etwa August Sander, kennen und schätzen. Die Inten­sität ihrer Menschen­dar­stel­lung verdankt sie jedoch weniger einer nüchternen Sachlich­keit als dem extrem persön­li­chen Blick auf Männer und Frauen, die ihr nahestehen. Ihre Fotos sind unmit­telbar, direkt, schonungslos, doch nie verlet­zend. „Bilder machen ist eine Art, jemanden zu berühren“, sagt Nan Goldin, „eine Form von Zärtlich­keit. Ich schaue mit einem warmen, nicht einem kalten Auge.“ Charak­te­ris­tisch wie dieser Blick ist auch Goldins spezielle Kombi­na­tion von Farbe und künst­li­chem Licht. Die üppigen Farben ihrer Bilder beschwören die schwüle Atmosphäre eines Lebens­ge­fühls zwischen Bett und Bar, Sex und Drogen.

1978 ging Goldin nach New York. In Clubs zeigte sie, anfangs zu Livemusik von Punkbands, ihre Fotos als Dia-Show. Später entwi­ckelte sie diese Vorfüh­rungen zur selbst­stän­digen Kunstform, halb Perfor­mance, halb Fotoroman, mit einem eigens zusam­men­ge­stellten Sound­track. Daraus entstand 1981 „Die Ballade der sexuellen Abhän­gig­keit“ (The Ballad of Sexual Depen­dency). Diese Enzyklo­pädie der Gefühle, Bezie­hungen und Verlet­zungen wurde von Nan Goldin über die Jahre hinweg immer wieder aktua­li­siert und fand schließ­lich weltweit ihren Weg in Kunst­aus­stel­lungen und Museen.

So wie Goldins Fotogra­fien das Leben ihrer Freun­dinnen und Freunde begleiten, erzählen sie auch davon, was ihr selbst wider­fährt: 1984 wird sie von einem Freund brutal zusam­men­ge­schlagen, 1988 ist sie von Drogen zerstört und am Ende. Danach, in der Entzugs­an­stalt, entstehen Bilder voller schmerz­li­cher Selbstvergewisserung.

1989, nach ihrer Genesung und dem Verlust enger Freunde durch Aids, werden Goldins Fotos strenger und ruhiger. Sie entdeckt das natür­liche Licht und arbeitet immer häufiger im Freien. Die Protago­nisten ihrer Bilder aber sind dieselben geblieben: David, Suzanne, Sharon, Siobhan, dazu neue Freunde aus Berlin, wo sie 1991/92 als Gast des DAAD arbeitete. Mittler­weile reicht die ‚Familie‘ Nan Goldins bis nach Japan. Gemeinsam mit Nobuyoshi Araki verwirk­lichte sie dort 1994 das Fotopro­jekt „Tokyo Love“.

Nan Goldins eindring­liche und einfühl­same Bilder sind so persön­lich wie allgemein verständ­lich: Ein bewegendes Dokument der condition humaine.