Richard Avedon

In the American West

29. 9. 2001 — 6. 1. 2002

Infos

Der im Jahr 1923 geborene Avedon brach 1942 sein Studium ab und verpflich­tete sich bei der Handels­ma­rine der Verei­nigten Staaten und wurde zunächst in der dortigen Bildstelle für die Aufnahmen der Kennkar­ten­fotos der Mannschaften einge­setzt. Avedon bemerkt zu dieser Zeit: „Ich muss vielleicht hundert­tau­send verwirrte oder verständ­nis­lose Gesichter aufge­nommen haben, bevor mir zum ersten Mal der Gedanke kam, dass ich ein Fotograf wurde.“ Als er sich Anfang der Vierzi­ger­jahre beim ameri­ka­ni­schen Hochglanz­ma­gazin Harper’s Bazaar bewirbt, enthält seine Mappe Porträts aus der Zeit bei der Handels­ma­rine, die die Aufmerk­sam­keit des Art Directors Alexey Brodo­vitch erwecken. Avedon wird engagiert und in den folgenden Jahren einer der exponier­testen Fotografen des Magazins, und prägt dessen Stil entschei­dend. Die Atmosphäre dieser Zeitschrift war für Avedon in seinen frühen Jahren von großer Bedeutung. Es waren seine Lehrjahre als Fotograf, der sich die ihn umgebende Welt durch seine Arbeit anzueignen begann.

Avedon gilt in der Modefo­to­grafie als bahnbre­chender Erneuerer und obgleich er eine Vielzahl von künst­le­ri­schen Projekten außerhalb der Modewelt reali­siert hat, gründet sich sein Ruhm weitge­hend auf die inzwi­schen legen­dären Mode- und Werbe­auf­nahmen. Er beendete die Ära steifer Studio­sets und schuf wie ein Filmre­gis­seur Szenen, in denen die Fotomo­dels wie Schau­spieler agieren. Beginnend in den Vierzi­ger­jahren in Paris kreiert Avedon Situa­tionen, die wirken, als habe der Fotograf sie zufällig entdeckt, obgleich jede Szene bis ins letzte Detail von ihm vorbe­reitet und insze­niert ist. Noch heute gelten einige seiner Aufnahmen als Inkuna­beln der Modefo­to­grafie. So ließ er etwa 1955 das Fotomo­dell Dovima in einem eleganten Abend­kleid von Dior im Spiel mit zwei Elefanten posieren. Ein weiterer Meilen­stein der Fotoge­schichte sind seine großfor­ma­tigen Fotowände. Auf diese Weise porträ­tierte er unter anderem die Mitglieder der Factory Andy Warhols oder die Beatles.

Im Jahr 1959 erscheint der Fotoband „Obser­va­tions“ mit Texten von Truman Capote, dessen Layout sehr stark vom Stil des Magazins Harper’s Bazaar beein­flusst war. Der Band enthält einige der prägnan­testen Porträts Avedons, so zum Beispiel Aufnahmen von Charlie Chaplin, Marcel Duchamp, Carson McCullers, dem Herzog und der Herzogin von Kent sowie von Marilyn Monroe und Arthur Miller. Es folgen eine Reihe von Projekten, bei welchen er die Sphäre der Mode und des Glamours dezidiert verließ. So fotogra­fierte er 1963 die Bürger­rechts­be­we­gung im Süden der USA und arbeitete zusammen mit James Baldwin an dem Buch „Nothing Personal“. Im selben Jahr entsteht die Serie „Psych­ia­tri­sche Anstalt“, zu deren Reali­sie­rung Avedon sich über einen längeren Zeitraum in einem psych­ia­tri­schen Kranken­haus aufhielt und die Insassen fotogra­fierte und sich damit einem Tabuthema der Gesell­schaft widmete.

1966 wechselte er von Harper’s Bazaar zum Modema­gazin VOGUE. Ende der Sechzi­ger­jahre und Anfang der Siebzi­ger­jahre fotogra­fierte er Demons­tranten gegen den Vietnam­krieg in den USA sowie Militär­be­fehls­haber und Kriegs­opfer in Vietnam und manifes­tierte damit abermals sein Interesse an gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hängen und impli­ziert in seinen Fotogra­fien eine deutlich erkenn­bare morali­sche Absicht.

Nach seiner Zeit in Vietnam widmete sich Avedon für insgesamt fünf Jahre von 1979 bis 1984 der Fotoserie „In The American West“. Im Auftrag des Amon Carter Museums in Fort Worth, Texas, ging Avedon daran, das Leben der arbei­tenden Bevöl­ke­rung im ameri­ka­ni­schen Westen zu dokumen­tieren. Avedon reiste wieder­holt monate­lang durch verschie­dene Bundes­staaten und konzen­trierte sich auf ganz bestimmte Orte: Ranches, Kohle­gruben, Ölfelder, Schlacht­höfe, klein­städ­ti­sche Restau­rants und Büros und beobach­tete gar das archaisch anmutende Fangen von Klapper­schlangen. Er traf auf Straf­ge­fan­gene, Obdach­lose, Tramps, auf Zirkus­ar­tisten und Rodeo­cow­boys. Alle Aufnahmen entstanden bei Tages­licht im Freien vor einem einfachen weißen Hinter­grund. Das Resultat ist eine schonungs­lose Fotoserie, die bei ihrer ersten Präsen­ta­tion in Texas vehemente Kritik erzeugte. Avedon hatte mit seinen Porträts von Menschen, die sich am Rande der Gesell­schaft der USA befinden, einen Mythos dekon­stru­iert. Der ameri­ka­ni­sche Westen als Paradigma des Begehrens, der Freiheit und der Weite ist bei ihm nicht mehr das Gelobte Land, das Land der Pioniere und Eroberer, sondern ein unwirt­li­ches Gebiet, das seinen Bewohnern viel Kraft abver­langt. Ikono­gra­fisch sind bei den Porträts zuweilen Bezüge auf kunst­his­to­ri­sche Motive erkennbar. So findet sich ein Christus als Schmer­zens­mann (James Story, Kohle­ar­beiter), der David von Michel­an­gelo (Billy Mudd, Lastwa­gen­fahrer) oder die Allegorie der Fortuna (Petra Alvarado, Fabrik­ar­bei­terin, an ihrem Geburtstag).

Richard Avedons eindrucks­volle und psycho­lo­gi­sche Porträt­se­rien rücken ihn in die erste Reihe der Menschen­dar­steller dieses Jahrhun­derts. Eine seiner großen Serien der letzten Jahre ist der Silves­ter­feier am Branden­burger Tor 1989 gewidmet, in der er für die Hoffnungen und Ängste der feiernden Menschen­menge symbo­li­sche Bilder fand.

Katalog
Richard Avedon. In the American West 1979–1984
Texte von Annelie Lütgens und Laura Wilson
24 x 29,8 cm, 150 S., 72 s/w und 4 farbige Abb.
Hatje Cantz Verlag, Ostfil­dern-Ruit 2001
ISBN 3–7757-1115–5
vergriffen