Ukrainian Dreamers

Charkiwer Schule der Fotografie

13. 10. 2023 — 7. 1. 2024

Infos

Es ist eine statt­liche Sammlung von rund 5.000 Fotogra­fien und über 70.000 Negativen – zusammen fast 2.000 Kilogramm Material –, die Sergiy Lebedy­n­skyy, der Leiter des Museum of Kharkiv School of Photo­graphy (MOKSOP), einige Wochen nach Beginn des russi­schen Angriffs­krieges nach Wolfsburg gebracht hat. Die Arbeiten gehören zu der sogenannten Charkiwer Schule der Fotografie, einer Bewegung, die seit Ende der 1960er-Jahre künst­le­risch experi­men­tiert und eine Art Antihal­tung zur offizi­ellen Fotografie sowje­ti­scher Prägung darstellt. Die Werke sollten eigent­lich in dem von Lebedy­n­skyy neuge­grün­deten MOKSOP in Charkiw gezeigt werden – eigent­lich, aber dann begann im Februar 2022 der völker­rechts­wid­rige Angriffs­krieg Russlands. In sonst leer geblie­benen Trans­port­wagen der humani­tären Hilfe haben die Fotogra­fien ihren Weg hinaus aus dem Kriegs­ge­biet gefunden und landeten schließ­lich in Lebedy­n­skyys Keller in Wolfsburg, wo er seit einigen Jahren wohnt und arbeitet. Das Kunst­mu­seum Wolfsburg hat dieses Konvolut vorüber­ge­hend in seinem Depot fachge­recht einge­la­gert. Nun wird ein Teil dieser bedeu­tenden Sammlung vom 13. Oktober 2023 bis 7. Januar 2024 in der Ausstel­lung Ukrainian Dreamers. Charkiwer Schule der Fotografie gezeigt.

Die Charkiwer Schule der Fotografie hat bereits mehrere Umbrüche erlebt, welche die ukrai­ni­sche Gesell­schaft erschüt­terten: von der „schwam­migen“ Stabi­lität der Breschnew-Ära über die rasche Befreiung durch die Perestroika, den anschlie­ßenden Zusam­men­bruch der UdSSR und die Wieder­erlan­gung der Unabhän­gig­keit des Landes, die Wirtschafts­krise und die Turbu­lenzen der 1990er-Jahre, zwei Revolu­tionen und den neoim­pe­ria­lis­ti­schen Angriffs­krieg unter Putin. All diese Perioden forderten viele ukrai­ni­sche Künstler*innen auf unter­schied­liche Weise heraus und machten die Schule zu einem fließenden Netzwerk, das letztlich auf die Verän­de­rungen in seinem Umfeld reagierte. 

In politi­sche und gesell­schaft­liche Schwe­be­zu­stände versetzt, durch­lebten die Künstler*innen diese mit dem Drang zum fotogra­fi­schen Experi­men­tieren. Da sie während der Sowjet­zeit von allen profes­sio­nellen Insti­tu­tionen und dem Markt isoliert waren und auch nach der Unabhän­gig­keit der Ukraine kaum Zugang dazu erhielten, betätigten sie sich meist in ihrer Freizeit künst­le­risch, etwa in Amateur-Fotoclubs. Die Künstler*innen flüch­teten sich entweder in die Konstruk­tion subjek­tiver Welten oder äußerten sich mutig zu gesell­schaft­li­chen und politi­schen Themen.

Wenn es darum geht, die Geschichte des Nonkon­for­mismus in der ukrai­ni­schen Kunst zu unter­su­chen, ist Charkiw, das als ein wichtiges Bildungs- und Indus­trie­zen­trum gilt, vor allem durch jene Fotoschule vertreten. Einer der Gründe für die wenigen nonkon­for­mis­ti­schen Künstler*innen war die besonders strenge Kontrolle, die der örtliche Zweig des staat­li­chen Künstler*innenverbandes und die Straf­be­hörden über die Künstler*innengemeinde ausübten. Doch mehrere kleine Gruppen von Fotograf*innen, insgesamt lassen sich heute um die 40 Künstler*innen aus vier Genera­tionen dazuzählen, haben sich zu unter­schied­li­chen Zeitpunkten vorgewagt. Sie schufen Werke, die mit den sowje­ti­schen Vorgaben wenig zu tun hatten. So ist neben dem Experi­men­tellen, wie etwa Überla­ge­rungen von Dias oder durch Poste­ri­sa­tion erreichte „Fehlfarben“, auch zwanglos-natür­liche Nacktheit zu finden – in der Sowjet­zeit schnell als Porno­grafie verurteilt.

Von der ersten Genera­tion um Boris Mikhailov und Evgeniy Pavlov über die Gruppen SOSka und Shilo zu aktuellen Arbeiten von Bella Logachova und dem Tandem Andriy Rachin­skiy und Daniil Revkovskiy gibt die Ausstel­lung, die in Koope­ra­tion mit dem Museum of the Kharkiv School of Photo­graphy entwi­ckelt wurde, Einblicke in die künst­le­ri­schen Ansätze des Phänomens der Charkiwer Schule der Fotografie.

Museum of Kharkiv School of Photography

Das MOKSOP (Museum of Kharkiv School of Photo­graphy) ist das erste ukrai­ni­sche Museum für zeitge­nös­si­sche Fotografie. Es wurde 2018 von den Fotografen Sergiy Lebedy­n­skyy und Vladyslav Krasno­sh­chok, sowie den Kunst­his­to­ri­ke­rinnen Oleksandra Osadcha und Nadiia Bernard-Kovalchuk gegründet. Der Name des Museums ist von der gleich­na­migen Bewegung der ukrai­ni­schen Kunst­ge­schichte inspi­riert – der Charkiwer Schule der Fotografie. Diese erlangte vor allem durch den Namen von Boris Mikhailov, einem der einfluss­reichsten zeitge­nös­si­schen ukrai­ni­schen Künstler*innen, inter­na­tio­nale Anerkennung.

Das MOKSOP hat einen bedeu­tenden Kernbe­stand der ukrai­ni­schen Fotografie seit den 1960er-Jahren zusam­men­ge­tragen: Heute umfasst die Sammlung des Museums mehr als 5.000 Abzüge und rund 70.000 Filmne­ga­tive klassi­scher Dokumentar- und Kunst­pro­jekte sowie die Werke junger Autor*innen. Mit dem Ziel, das fotogra­fi­sche Erbe des Landes bekannt­zu­ma­chen, führt die Kurator*innengruppe des MOKSOP ein nomadi­sches Ausstel­lungs­pro­gramm durch und organi­siert indivi­du­elle und kollek­tive Projekte mit Partner­ein­rich­tungen in der Ukraine sowie im Ausland.

Künstler*innen der Ausstellung

Sergiy Bratkov, Herman Driukov, Viktor und Sergiy Kochetov, Bella Logachova, Oleg Maliovany, Boris Mikhailov, Evgeniy Pavlov, Roman Pyatkovka, Daniil Revkovskiy und Andriy Rachin­skiy, Jury Rupin, Shilo Group (Vladyslav Krasno­sh­chok und Sergiy Lebedy­n­skyy), SOSka Group (Mykola Ridnyi, Serhiy Popov und Hanna Krivent­sova), Oleksandr Suprun.

Konzept und Kurator
Sergiy Lebedy­n­skyy

Kurato­ri­sche Assistenz
Carla Wiggering, Oleksandra Osadcha

Magazin

Presse

Mit Unter­stüt­zung
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