Blow Up! Vom Wachsen der Dinge – Werke erklärt

Wie ein Rhizom, ein weitver­zweigtes Wurzel­werk, durch­ziehen die Ausstel­lung Blow Up! aktuelle Themen, die im weitesten Sinne vom Wachsen der Dinge handeln. Auf vielfäl­tige Weise verhan­deln, erfor­schen, kriti­sieren, karikieren und persi­flieren die neuen Arbeiten der Sammlung tradierte Wachs­tums­vor­stel­lungen. Dabei liegt der Schwer­punkt auf der zeitli­chen und räumli­chen Dimension des Wachstums. Mit einer eindrucks­vollen Erwei­te­rung von mehr als 80 Schen­kungen aus jüngster Zeit steht aber auch das Anwachsen der Museums­samm­lung selbst im Zentrum der Ausstellung.

In der Ausstel­lung kreuzen sich immer wieder zwei unter­schied­liche Wachs­tums­ideen: das organi­sche und kultu­relle Wachstum. Sinnbild­lich für diese zwei Tendenzen stehen zu Beginn der Blob von Phyllida Barlow, ein „Einzeller“, der sich in den Raum hinein­bläht und für das Organi­sche und Evolu­tio­näre steht. Das Video Remem­be­ring Paral­in­guay von Gary Hill verweist hingegen auf eine kultu­relle Entwick­lung des Menschen. Das Video führt die Wahrneh­mung zunächst in der Dunkel­heit auf einen Nullpunkt zurück, bevor eine Person aus dem Nichts auf die Besuchenden zuschreitet. Ihre kraftvoll geschrienen Laute lassen an eine vorsprach­liche oder auch zukünf­tige Form von Kommu­ni­ka­tion denken.

Die Entfal­tung von unter­schied­li­chen Formen des Raums und seiner Erfor­schung stehen im Zentrum der darauf­fol­genden fotogra­fi­schen Serien: Ebenfalls bei Dunkel­heit, in der Nacht, insze­niert Daniel Boudinet unter­schied­liche räumliche Situa­tionen innerhalb seiner Pariser Wohnung. Seine Bilder sind das Ergebnis eines techni­schen Spiels mit Licht und Schatten sowie Trans­pa­renzen, weshalb er zu den frühen Pionieren der künst­le­ri­schen Farbfo­to­grafie zählt. Das spezi­fi­sche blau-grüne Licht taucht die Einrich­tung und die Räume mit ihren Öffnungen in eine geheim­nis­volle, teils unheim­liche Atmosphäre.

Das gegen­sätz­liche Spiel aus (archi­tek­to­ni­scher) Distanz und (intimer) Nähe, Privat­heit und öffent­li­chem Raum setzt auch Alain Fleischer in seinen Fotomon­tagen fort. Er versucht, die voyeu­ris­ti­sche Aktivität der Fotografie umzukehren und sie zu einer exhibi­tio­nis­ti­schen Aktivität zu machen, indem er porno­gra­fi­sche Bilder auf die umlie­genden Fassaden projiziert.

Adam Putnam erforscht die unter­schied­li­chen Quali­täten und Wahrneh­mungen von (Zwischen-)Räumen. Beein­flusst von den Archi­tek­tur­fan­ta­sien von Giovanni Battista Piranesi aus dem 18. Jahrhun­dert, sind es neben der räumli­chen Geometrie und der perspek­ti­vi­schen Illusion vor allem die psycho­lo­gi­schen Eigen­schaften und Wahrneh­mungen, die ihn inter­es­sieren. Einer­seits setzt er einzelne isolierte archi­tek­to­ni­sche Fragmente und Objekte innerhalb seiner abstrakten Fotografie in Beziehung zum abstrakten Umraum. Anderer­seits zwingt er seinen eigenen Körper zur unmit­tel­baren physi­schen Inter­ak­tion mit dem Zwischen­raum, indem er sich in Bücher­re­gale und Geschirr­schränke presst.

Ausgehend von seinem Interesse für das Unfass­bare sowie für unter­be­wusste Zusam­men­hänge, verhan­delt Jürgen Klauke in Zweisam­keitsi­ma­gi­nie­rung ebenfalls die Beziehung zwischen Subjekt und dingli­cher Welt. In den Insze­nie­rungen von psycho­lo­gisch stark aufge­la­denen Situa­tionen wird der Mensch zur Requisite. Während sich der Künstler selbst im ersten Tableau vivant dem bleiernen Gravi­ta­ti­ons­feld aussetzt, verliert sich seine Präsenz in den beiden folgenden Bildern im Phantom­haften. Die Tische, gefüllten Ballons, Schüsseln und Kissen bilden ihre eigene metaphy­si­sche Realität und drängen hierdurch die existen­zi­elle Frage nach der Verortung des Subjekts in den Vordergrund.

Viele der Scheren­schnitte von Stefan Thiel basieren auf Fotogra­fien, die er im urbanen Kontext von Berlin aufge­nommen hat. An dem Scheren­schnitt mit seiner langen Kultur­ge­schichte inter­es­siert ihn die Möglich­keit der formalen Reduktion von Raum und Objekt. Gleich­zeitig stellt das Medium eine Distanz zum Darge­stellten her. Wie im Scheren­schnitt überla­gern sich in seinen Werken verschie­dene Themen. Die Idee von Sinnlich­keit und Begehren ist eines seiner Grund­mo­tive. Trotz seiner Ausein­an­der­set­zung mit Sexua­lität, Erotik und Fetisch, insbe­son­dere innerhalb von queeren Commu­nitys, verdecken seine Arbeiten mitunter mehr als sie tatsäch­lich zeigen. Dies gilt auch für die fotogra­fi­sche Serie der Silhou­etten, die Personen aus seinem Umfeld mit einer über den Kopf gestülpten schwarzen Strumpf­hose zeigen.

Das Verdecken, ja sogar Zudecken oder Verdrängen ist Teil der US-ameri­ka­ni­schen (Kolonial-)Geschichte und spielt auch bis in die Gegenwart hinein eine zentrale Rolle. Eine schwarz bemalte, aber arg rampo­nierte Gipsbüste eines weißen Mannes mit Krawatte ist auf dem Boden gelandet und steht vor einem umfang­rei­chen Ensemble aus Farbei­mern, die zu schiefen Säulen aufge­türmt wurden. Die namenlose Büste hat der Afroame­ri­kaner Rodney McMillian als gefun­denes Objekt mit der Anspie­lung auf die Vorliebe der US-Ameri­kaner für das neoklas­si­zis­ti­sche Archi­tek­tur­ele­ment der Säule verknüpft.

Der Urtypus der US-ameri­ka­ni­schen Archi­tektur, die Block­hütte des weißen Mannes, steht hingegen für Olga Koumoun­douros Skulptur Sagamore: The Good Life im Fokus. „Sagamore“ war die Bezeich­nung für die Anführer von Großfa­mi­lien der indigenen nordame­ri­ka­ni­schen Abenaki. Die Block­hüt­ten­ar­chi­tektur hat hier eine geschlos­sene Form: Ohne Fenster und Türen und mit gleich großen Seiten wirkt sie herme­tisch und abweisend als zugespitzte Version einer sich selbst genügenden Behausung. Johannes Wohns­ei­fers Titel seiner auf die USA bezogenen Wandar­beit wirkt hierzu wie ein bissiger Kommentar, indem er das Erbe des westli­chen Kolonia­lismus hinter­fragt: not a flag not even a map. Sie bildet einen Kontrast zur Inter­pre­ta­tion der ameri­ka­ni­schen Flagge durch Goran Tomcic, der diese als Hologramm-Collage gestaltet hat.

Die tief in der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft verwur­zelte Waffen­be­geis­te­rung hat Olga Koumoun­douros in ihrer Serie LA Gun Club aufs Korn genommen: Auf drei Schieß­ständen in Los Angeles hat sie mit nahezu allen handels­üb­li­chen Schuss­waffen auf Stücke des als schuss­si­cher geltenden Materials Kevlar geschossen und die Einschuss­stellen mit den Namen der Waffen­mo­delle versehen. Man sieht, dass dieser Stoff gar nicht so unver­wundbar machen kann, wie es immer behauptet wird. Durch die steigende Anzahl von Amokläufen in der US-ameri­ka­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft besitzt diese Arbeit eine brisante Aktualität.

Mit „Konjunk­tur­auf­schwung“ lässt sich wohl der Titel Economic Recovery von Olga Koumoun­douros recht treffend übersetzen, zeigt er doch ein Gefährt, das sich durch zwei nagelneue SUV-Reifen und ein Sport­trikot auszeichnet, das über ein Leicht­me­tall­ge­stell gespannt ist. Konter­ka­riert werden diese Elemente des protzigen Way of Life durch das an leere Hoden­säcke erinnernde Stoffteil am hinteren Ende, an dem auch die Stopper einer Gehhilfe montiert sind.

Etwa 30 Jahre zuvor hat Fred Lonidier die Festnahmen von 29 Demonstrant*innen in San Diego fotogra­fiert. Diese hatten friedlich gegen den Vietnam­krieg demons­triert und wurden daraufhin festge­nommen und „erken­nungs­dienst­lich“ behandelt, bevor sie in einen Polizeibus verbracht wurden. Die meisten von ihnen waren Student*innen. Lonidier, selbst Student, stellte sich dabei direkt neben oder hinter den Polizei­fo­to­grafen. Viele der Aufnahmen zeigen eine Stimmung bei den Verhaf­teten wie auch bei einigen Polizisten, die an ein groteskes Happening erinnern. Im Vietnam­krieg starben zwischen den Jahren 1961 und 1975 rund 58.000 US-Soldaten und weit über 1,2 Millionen Menschen aus Vietnam.

Die gefun­denen, handko­lo­rierten und digital retuschierten Fotogra­fien hat die aktivis­ti­sche Künst­lerin Tejal Shah der medialen Bilder­flut entnommen, um eine Vorstel­lung von zivilen Opfern aus den letzten 60 Jahren zu geben. Darunter auch ein buddhis­ti­scher Mönch, der sich als radikalste Form des politi­schen Protests gegen die brutale Unter­drü­ckung Tibets durch China selbst verbrennt. Innerhalb der Serie zeigt die Künst­lerin insbe­son­dere die leblosen Körper von Boots­flücht­lingen, womit sie das Scheitern von Grenz­über­win­dungen infolge von Flucht und Migration offenlegt. Die schwe­bende Insze­nie­rung verleiht dem Zustand des Unbeco­ming – des Nicht-werden-Könnens – Ausdruck.

Ende der 1990er-Jahre gründete die feminis­ti­sche Künst­lerin Wynne Greenwood als einziges reales Mitglied die multi­me­diale Band Tracy + The Plastics, deren fiktive Mitglieder sie alle selbst verkör­perte. Das Arbeiten zwischen den verschie­denen Diszi­plinen und im Spannungs­feld von vorge­schrie­benen Handlungen und freier Impro­vi­sa­tion setzt sich auch in der Instal­la­tion Peas (2007) fort. Dabei tritt die Künst­lerin in einen direkten Dialog mit etwas physisch Abwesendem. In diesem Fall begeben sich ihr angst­ge­trie­bener Bauch sowie ihre kopfge­machten Sorgen in ein Streit­ge­spräch. Greenwood setzt das Medium der Zeichnung immer wieder gezielt ein, um unsicht­bare Kräfte, wie etwa ihre eigene Angst, zu visua­li­sieren. Wie aus dem oberfläch­li­chen und phrasen­haft geführten Dialog, mit vorwurfs­vollem Grundton, deutlich wird, handelt es sich bei den gezeich­neten „Erbsen­ge­sich­tern“ um Karika­turen von bürger­li­chen Stand­punkten. Die kindli­chen Darstel­lungen bilden einen Kontrast zu den „erwach­senen“ Fragen von Macht und Reprä­sen­ta­tion, die hier auf einer zweiten Ebene disku­tiert werden.

Die Malerin Mariela Scafati erweitert fortwäh­rend die Grenzen ihrer Disziplin, indem sie die Leinwände zu beweg­li­chen Körpern montiert. Die räumli­chen Bezie­hungen wie auch die Abgren­zung der Leinwände vonein­ander – beispiels­weise in Form der indivi­du­ellen Farbschat­tie­rungen und ‑inten­si­täten – spiegeln auf abstrakte Weise die Idee von sozialen Gefügen wider. Über Seile orches­triert die Künst­lerin ihre Leinwände, wodurch sie diese als Verlän­ge­rung ihres eigenen Körpers wahrnimmt. Die Seiltechnik selbst ist der Kunst des Shibari, einer japani­schen Bondage-Tradition entlehnt, deren eroti­sches Potenzial zur Findung von ästhe­ti­schen Körper­posen im Raum genutzt wird.

Auf dem Weg zum nächsten Raum passiert man die frühe Video­ar­beit Rock City Road des Video­pio­niers Gary Hill, die in Woodstock, New York, entstanden ist. Diese enthält mehrere Ebenen von Bildern des Gehens auf verschie­denen Oberflä­chen, einschließ­lich Bürger­steig und schnee­be­decktem Gelände. Die Bilder wurden mithilfe von Video­re­kor­dern aufge­nommen und bearbeitet. Die Bearbei­tungs­vor­gänge – schneller Vorlauf, Rücklauf, Pause sowie das „Kratzen“ durch und zwischen den Bildern – bleiben ebenso präsent wie die Geräusche, die sie erzeugen. Diese Geräusche fungieren als metapho­ri­sche Verbin­dung zwischen der Materia­lität der Welt und der elektro­ni­schen Medien.

Mit seinem eindrucks­vollen pneuma­ti­schen Ensemble Fleurs du Mal (1969) – den Blumen des Bösen, die zu den ersten seiner sogenannten Infla­t­a­bles [aufblas­baren Skulp­turen] gehören – offenbart Otto Piene am deutlichsten die wechsel­sei­tige Beziehung von Wachstum und Vergehen. Der Titel selbst ist Charles Baude­laires gleich­na­migen und Mitte des 19. Jahrhun­derts entstan­denen Gedicht­band entlehnt. Das Spiel mit den Natur­kräften und ‑elementen setzt sich auch in Pienes Keramik­ar­beiten fort, die er selbst als seine „schweren Bilder“ bezeichnet. Für Piene greifen in diesem Medium alle Elemente – Licht, Luft, Wasser und Feuer – inein­ander. Sein Interesse gilt vor allem dem Licht­spiel, welches sich aus der Brechung des Lichts an der aufge­bro­chenen Oberfläche der Reliefs sowie durch den Auftrag der Lasuren ergibt.

Otto Pienes Wandar­beiten aus Ton treten in einen Dialog mit den „aufge­peitschten“ Keramik­bil­dern von K. O. Götz. Beide Künstler verbindet, dass sie erst im hohen Alter zum Arbeiten mit Ton fanden und ihre Wandre­liefs in der gleichen Kölner Werkstatt reali­sierten. Der Maler – unter anderem Lehrer von Gerhard Richter, Sigmar Polke und Franz Erhard Walther – des sich ab den 1940er-Jahren in Europa entwi­ckelnden Informel, der vor allem für seinen Einsatz von Rakeln bekannt ist, beschreibt das Resultat als „eine Ausein­an­der­set­zung mit dem Material, so wie ich es voran­treiben kann“. Die Wider­spens­tig­keit des zähen Materials veran­lasste ihn, die Masse teils unter gesamten Körper­ein­satz in Form zu bringen. In dem wütenden Um-sich-Schlagen lag für Götz das Spontane und Gestische des Informel.

Unter Blow-up wird in der Fotografie sowie im Film auch die techni­sche Möglich­keit zur Vergrö­ße­rung verstanden. Das Spiel mit den Größen beherrscht auch der ausge­bil­dete Biologe Jochen Lempert. Seine analogen Schwarz-Weiß-Fotogra­fien stechen durch ihre Grobkör­nig­keit sinnlich hervor und entwi­ckeln dadurch eine Nähe zum Medium Zeichnung. Aus dem natur­wis­sen­schaft­li­chen Bereich überführt er die Methode des Klassi­fi­zie­rens auf seine eigene künst­le­ri­sche Praxis. Indem er ästhe­ti­sche Kriterien beim Sammeln, Archi­vieren, Auswerten und Zusam­men­stellen seiner Motive verfolgt, unter­läuft er aller­dings das Denken in strengen Klassi­fi­ka­tionen. Bei den frontal porträ­tierten Tieren handelt es sich wahlweise um lebende oder bereits ausge­stor­bene Arten sowie um ihre Abbilder. Charak­te­ris­tisch ist, dass die Tiere trotz der dokumen­ta­ri­schen Heran­ge­hens­weise vermensch­lichte Züge aufweisen.

Der Schwarz-Weiß-Film I’m sorry but I don’t want to be an emperor … von Jordan Wolfson zeigt einen Mann ohne Kopf, der sich emotional engagiert in Gebär­den­sprache mitteilt. Der Titel bezieht sich auf die Rede von Charlie Chaplin am Ende des Satire-Films Der große Diktator (1940). Wolfson übertrug diese Rede in die lautlose Gestik der Gebär­den­sprache, die vom Rattern des 16mm-Projek­tors begleitet wird. Damit lässt er Chaplin zu seinem ursprüng­li­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­kanal zurück­kehren: dem Stummfilm. Indem er die Figur vor einem sterilen weißen Hinter­grund platziert, ließ sich Wolfson von dem Kurzfilm The Perfect Human (1967) des dänischen Künstlers Jørgen Leth inspi­rieren, in dem es um die Unmög­lich­keit der Perfek­tion des Menschen geht. Indem Wolfson diese beiden Extreme zusam­men­bringt, positio­niert er Chaplins Idealismus neben einer nihilis­ti­schen Betrach­tung. Gleich­zeitig reflek­tiert er mit dieser Gegen­über­stel­lung die Sinnlo­sig­keit mensch­li­chen Handelns und die Verzweif­lung, aber auch die Werte und Ideale in Zeiten politi­scher Unterdrückung.

Zehn Jahre nach dem Mauerfall thema­ti­siert René Lück in seinem Wandre­lief BRD die deutsche Teilung und damit die Konkur­renz zweier politi­scher Systeme. Die Bezeich­nung AC/DC (engl. für Wechselstrom/Gleichstrom) hatte 1973 die bekannte austra­li­sche Rockgruppe aufge­griffen und sich als Namen angeeignet. „René Lück ist ein Archäo­loge der kollek­tiven Erinne­rung. In seinen Instal­la­tionen legt er verbor­gene Bilder und Symbole frei, die sich in den tieferen Schichten unseres gesell­schaft­li­chen Gedächt­nisses verbergen und rückt sie in den Mittel­punkt unserer Aufmerk­sam­keit. Lück wendet sich dabei vor allem Objekten und Darstel­lungen zu, die als Symbole politi­scher Selbst­be­stim­mung gelten und damit zu Ikonen des kollek­tiven Gedächt­nisses wurden.“ (Michael Dethl­effsen) Das Thema der kollek­tiven Erinne­rung greift auch Goran Tomcic mit seiner Flagge Baby Blue Flag auf, indem er an die Menschen erinnert, die sich in den 1980er-Jahren in den USA mit HIV infizierten und an AIDS erkrankten.

Zum Thema histo­ri­scher Entwick­lungen gehört auch der Titel des großfor­ma­tigen Bildes What looks good today may not look good tomorrow von Michel Majerus, das an dieser Stelle an den am 6. November 2002 tödlich verun­glückten Künstler erinnert [siehe Wandtext].

Was bei allen letzt­ge­nannten Werken im Zentrum steht, ist vor allem die Suche nach Orien­tie­rung, ein Bedürfnis, das im Zeitalter der Globa­li­sie­rung immer inten­siver wahrge­nommen wird. Das Unkar­tier­bare zu kartieren, versucht Nathan Carter mit seinen Wandre­liefs in bewusst naiver Ästhetik, um auf unsicht­bare Kommu­ni­ka­ti­ons­sys­teme und Mobili­täts­struk­turen im urbanen Kontext hinzu­weisen. Als Künstler stellt er mit seinen Reliefs die Ziehung von terri­to­rialen Grenzen infrage.

Am Anfang der Ausstel­lung konnte man die Erfahrung machen, wie sich aus der schwarzen Tiefe des Raumes – quasi aus dem Nichts – Bewegung, Handlung und die Suche nach Sinnhaf­tig­keit entwi­ckeln. Diese Suche nach Sinnhaf­tig­keit wird von den Exponaten auf vielfäl­tige Weise aufge­nommen und spitzt sich gegen Ende der Ausstel­lung zu: Johannes Wohns­eifer lässt uns vor ein weißes Bild treten, das mit einem realen Tarnnetz verhangen und somit unseren Blicken verborgen ist, das Bild also unserem Sehen rigoros verwehrt wird.

Ebenfalls am Ende der Ausstel­lung hängt eine „Materi­al­blase“ von Phyllida Barlow von der Decke herab, ähnlich der am Anfang der Ausstel­lung, aber jetzt wesent­lich größer und bedroh­li­cher und zu einer Art multi­fo­kaler Überwa­chungs­ka­mera mutiert: Unter ihr verlässt man die Ausstel­lung schließ­lich mit dem Gefühl, selbst betrachtet oder gar beobachtet zu werden.

Alle Neuzu­gänge sind großzü­gigen Sammlerinnen und Künstlerinnen zu verdanken, denen wir für die übereig­neten Kunst­werke sowie ihr außer­ge­wöhn­li­ches Engage­ment an dieser Stelle sehr herzlich danken.

Phyllida Barlow, Untitled (Blob, yellow), 2010, Styropor, Papier, Stoff,
Farbe, Sprüh­farbe, Holz, ca. 50 x 50 x 50 cm, © Phyllida Barlow,
Foto: Marek Kruszewski, Schenkung aus Privatsammlung
Jürgen Klauke, Zweisam­keitsi­ma­gi­nie­rung, 1996, 3‑teilig (abgebildet hier Teil 3), Fotoar­beit auf Träger­platten,
Nirosta-Stahl­rahmen, je 180 x 240 cm, © Jürgen Klauke, Schenkung aus Privatsammlung
Rodney McMillian, Untitled (Unknown), 2006, Säulen, Büste (Leinwand,
Acryl­farbe, leere Farbdosen, gefundene Gipsbüste), Gesamtmaß
variabel, © Rodney McMillian, courtesy der Künstler und Vielmetter
Los Angeles, Foto: Gene Ogami, Schenkung aus Privatsammlung
Goran Tomcic, Flag, 2008 und Olga Koumoun­douros, Sagamore: The Good Life, 2005,
Foto: Marek Kruszewski 
Fred Lonidier, aus der Serie: 29 Arrests: Headquar­ters of the 11th Naval District, May 4, 1972,
San Diego (Detail), 1972, 29 Schwarz­weiß­fo­to­gra­fien und ein Deckblatt, Ed. 2/3, je 12,8 x 20,3 cm,
Kunst­mu­seum Wolfsburg, Schenkung Privat­samm­lung, Berlin, © Fred Lonidier
Wynne Greenwood, Peas, 2007
Mariela Scafati, Se aleja y se acerca (It moves away and it gets closer), 2021, Instal­la­tion,
Acryl auf 10 Leinwänden, Maße variabel, © Mariela Scafati, Foto: Marjorie Brunet-Plaza,
Schenkung Jochen und Christof Beutgen, Berlin
Otto Piene, Fleurs du Mal, 1969, 7‑teilig, Kunst­stoff, Gebläse, Höhe ca. 250 cm,
Kunst­mu­seum Wolfsburg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Schenkung aus Privatsammlung
René Lück, BRD, 1999 und AC/DC, 1999, Foto: Marek Kruszewski 
Michel Majerus, What looks good today may not look good tomorrow, 1999,
Acryl auf Leinwand, © Michel Majerus, Foto: Marek Kruszewski
Phyllida Barlow, Untitled (Security Camera), 2010, Styropor, Papier, Stoff, Farbe, Sprüh­farbe,
Holz ca. 180 x 180 x 180 cm, Kunst­mu­seum Wolfsburg Schenkung aus Privat­samm­lung,
© Phyllida Barlow, Foto: Marek Kruszewski